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Sanktionen Wie schlimm wäre ein Gas-Embargo wirklich?

Die Angst vor den Auswirkungen eines Gasembargos ist groß
Die Angst vor den Auswirkungen eines Gasembargos ist groß
© IMAGO / ITAR-TASS
Bundesregierung, Unternehmen und Lobbyverbände warnen mit drastischen Szenarien vor einem Lieferstopp von russischem Erdgas. Ökonomen kritisieren das als Panikmache

„Massenarbeitslosigkeit“, „soziale Unruhen“, „Riesenfiasko“ – die Formulierungen, die die Gegner eines Gasembargos wählen, sind drastisch, wenn es um die möglichen Folgen eines Lieferstopps geht. Unternehmen, Verbände und Gewerkschaften warnen derzeit auf breiter Front gegen eine solche Maßnahme. Die Bundesregierung verweist auch in Brüssel auf die Sorgen der Wirtschaft, um das Nein Deutschlands zu härteren Sanktionen gegen Russland zu begründen. Doch für die dramatischen Szenarien fehlen laut Wissenschaftlern belastbare Zahlen und Belege – sie sprechen von „Panikmache“.

Mehr als 35 Mrd. Euro hat die EU seit Kriegsbeginn für Energielieferungen an Russland gezahlt. Geld, mit dem sie indirekt auch den Krieg in der Ukraine mitfinanziert. Denn der Staatshaushalt Russlands basiert zu 40 Prozent aus Einnahmen von Öl- und Gasgeschäften. Solange Deutschland und Europa weiter Geld für Energie nach Moskau überweisen, könne Russlands Präsident Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine problemlos weiterführen, sagt Professor Alexander Kriwoluzky, Makroökonom beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu Capital.

Und tatsächlich: Der Rubelkurs hat sich inzwischen wieder deutlich stabilisiert, die Währung ist in etwa so viel wert wie vor Kriegsbeginn. „Die Nachfrage nach Rubel wird von den Europäern generiert, indem sie russisches Gas und Öl kaufen“, kritisiert Kriwoluzky. Mit einem Gasembargo käme Russland dagegen deutlich in Bedrängnis. Deutschland drohe dann eine „scharfe Rezession“, bei geeigneten politischen Steuerungsmaßnahmen wäre das wirtschaftlich aber verkraftbar, so die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer aktuellen Gemeinschaftsdiagnose.

Die Expertinnen und Experten haben durchgerechnet, wie hoch das Wachstum in Deutschland mit und ohne sofortigen Stopp der russischen Gaslieferungen wäre. Das Ergebnis: Wird weiter russisches Gas importiert, dürfte das Bruttoinlandsprodukt 2022 demnach um 2,7 Prozent zulegen (2023: plus 3,1). Bei einem kompletten Einfuhrstopp fiele das Wachstum mit 1,9 Prozent etwas geringer aus (2023: minus 2,2). „Der kumulierte BIP-Verlust beläuft sich im Falle eines Lieferstopps allein in den beiden Jahren 2022 und 2023 auf rund 220 Mrd. Euro, was mehr als 6,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht“, so die Forschenden.

Wie stark würde uns ein Embargo treffen?

Schon länger tobt unter Ökonominnen und Ökonomen eine heftige Debatte über die Frage, wie sehr ein Gasembargo die deutsche Wirtschaft wirklich treffen würde. Die Spanne der Berechnungen ist groß: Während Wissenschaftler der Universitäten Köln und Bonn mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um lediglich 0,5 Prozent rechnen, geht die Bundesbank von bis zu fünf Prozent und das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung sogar von sechs Prozent aus.

Der Streit entwickelt sich nun weiter: Denn einige Forschende werfen besonders Unternehmen, Verbänden und Gewerkschaften vor, dass sie – anders als die wissenschaftlichen Institute, die volkswirtschaftliche Berechnungen vornähmen – ihre Aussagen zu den Folgen eines Gasembargos aus einem „Bauchgefühl“ heraus träfen. Die Motivation dahinter halten sie für unredlich: „Sie können keine verifizierbaren Zahlen vorlegen und haben auch keine Modelle, mit denen sie Szenarien durchrechnen könnten“, meint Kriwoluzky. „Sie treffen ihre Aussagen aus dem Bauchgefühl heraus.“

„Alle Studien kommen bisher zu dem Schluss, dass ein Gasembargo nicht das Ende der deutschen Volkswirtschaft bedeuten würde“, sagt auch Karen Pittel, Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Expertin am Ifo-Institut, gegenüber Capital. Genau das befürchten allerdings viele Verbände und Firmen in Deutschland, darunter auch der weltweit größte Chemiekonzern BASF. Dessen Chef Martin Brudermüller warnte zuletzt in der „FAS“ vor der Zerstörung der „gesamten Volkswirtschaft“. Diese Bilder seien mitunter zu düster, sagt Pittel, und warnt die Bundesregierung vor einer zu einseitigen Einschätzung der Lage. „Natürlich muss die Bundesregierung mit allen Gruppen sprechen, sie sollte die Informationen aber mit einer gewissen Vorsicht genießen.“

Offenbar können weder das Bundeswirtschaftsministerium oder die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie noch BASF oder Thyssenkrupp eindeutige Zahlen liefern, wie Recherchen des ARD-Magazins Monitor zeigen. Stattdessen berufen sie sich häufig auf allgemeine Aussagen. Thyssenkrupp etwa verweist demnach auf „interne Experten (...) sowie Gespräche mit Kunden und Lieferanten“, auf denen die Warnungen basieren sollen.

Die Folge einer „Massenarbeitslosigkeit“ jedenfalls sehen die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer Gemeinschaftsdiagnose nicht. Ohne Gasembargo rechnen sie mit einer Arbeitslosenquote von 5,0 Prozent. „Im Fall eines Lieferstopps dürften die Raten 5,2 Prozent (2022) und 6,0 Prozent (2023) betragen“, schreiben sie. „Belastungen für die Konjunktur würden in diesem Fall im Wesentlichen über eine reduzierte Arbeitszeit aufgefangen werden.“ Massenarbeitslosigkeit sei kein realistisches Szenario, sagt Kriwoluzky. „Lobbyverbände schüren gezielt Panik, um ein Gasembargo zu verhindern.“

Ifo-Expertin Pittel plädiert insgesamt für eine bessere Kommunikation von Seiten der Bundesregierung, denn die sei bisher „zweischneidig“: Verhänge Russland ein Embargo, wäre das laut Ampelkoalition verkraftbar. Ginge der Importstopp dagegen von Deutschland aus, würde die Versorgung plötzlich schwierig. „Mit solchen entgegengesetzten Aussagen verunsichert sie und fördert mit Szenarien von Massenarbeitslosigkeit eine Grundstimmung der Panik“, sagt Pittel.

Für Kriwoluzky stehen hinter den Szenarien finanzielle Interessen. „Die Industrie versucht ein Erdgasembargo zu verhindern, weil sie weiter ihre Gewinne einfahren will.“ Um die Folgen des Krieges abzufedern, hat die Ampelkoalition kürzlich ein „Schutzschild für vom Krieg betroffene Unternehmen“ angekündigt. Es soll Firmen helfen, die wirtschaftlich unter den Sanktionen oder dem Krieg leiden. Das Maßnahmenpaket verschlimmere die Situation nur, sagt Kriwoluzky. „Statt die Unternehmen zum Energiesparen anzutreiben, subventioniert der Bund weiter Energieverschwendung.“

Gerade das Thema Energiekosten sei auch für Verbraucherinnen und Verbraucher wichtig, sagt Karen Pittel vom Münchner Ifo-Institut. Die Bedrohung durch hohe Heizkosten sei sehr abstrakt. „Mieterinnen und Mieter sollten von Vermietern oder Energielieferanten eine Information darüber bekommen, wie teuer es für sie wirklich wird. Dann würden schnell sehr viel mehr Menschen Energie sparen.“

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